Die Alchemisten von der hessischen Bergstraße

Zucker und CO2 sind zwei tickende Zeitbomben, die ein Unternehmen nahe Darmstadt mit seinen Produkten und Technologien entschärfen könnte. Gold kann BRAIN auch schürfen. Vor zwei Jahren ist der deutsche Pionier der Bioökonomie an die Börse gegangen. Fondsmanager Björn Glück fragt nach den Treibern des erhofften Umsatzwachstums.

Von Ina Lockhart

„Bin Zellen holen“, steht als Abwesenheitsnotiz auf dem Zettel, der an einem der Laborarbeitsplätze im ersten Stock der Unternehmenszentrale der BRAIN AG klebt. Zellen sind mehr als nur eine Art Rohstoff für das 25 Jahre alte Unternehmen, das in Langform „Biotechnology Research And Information Network“ heißt. Die Zellen sind fast schon so etwas wie „Mitarbeiter“.

Zu den insgesamt rund 230 menschlichen Mitarbeitern können sich schnell einmal etliche Tausend mikroskopisch kleine „Bergbauingenieure“, „Produzenten“ von Geschmacksverstärkern oder Hochleistungsmikroorganismen hinzugesellen, sollte es die Auftragslage erfordern. Um Gold und andere wertvolle Edelmetalle aus Schlacken oder aus Aschen von Abfallverbrennungsanlagen zu extrahieren, um im Supermarkt Lebensmittel mit demselben Süßgeschmack, aber mit reduziertem Zuckergehalt anzubieten oder um aus CO2 Biokunststoffe herzustellen. Gerade die produktive Nutzung des Abfallprodukts CO2 birgt große Hoffnung: „Aus volkswirtschaftlicher Sicht würde Deutschland, als per se rohstoffarmes Land, plötzlich zu einem rohstoffreichen Land werden, denn CO2 haben wir mehr als genug“, erläutert Dr. Jürgen Eck, Vorstandsvorsitzender des an der hessischen Bergstraße beheimateten Technologieunternehmens.

Der promovierte Mikro- und Molekularbiologe Eck ist 1994 zum BRAIN-Gründerteam um Holger Zinke gestoßen und führt seit August 2015 das Unternehmen. Das Ziel ist klar: Industrien auf biologische Prozesse und Stoffe umzustellen, um so die Grundlage für nachhaltiges Wirtschaften zu schaffen. Für diese Biologisierung der Industrie erforscht BRAIN derzeit in 15 Pipeline-Programmen, welche Enzyme, welche Mikroorganismen und welche bioaktiven Naturstoffe in verschiedenen Zielmärkten als Produkte oder Prozesse zum Einsatz kommen können.

Bei aller Wissenschaftsbegeisterung und Forscherkompetenz haben Management und Gründer seit 2008 mit Blick auf die Wertschöpfungsketten das BioIndustrial-Segment aufgebaut. Darüber entwickelt BRAIN eigene Produkte, die über Tochtergesellschaften oder per Lizenzvereinbarungen mit global agierenden Unternehmen vermarktet werden, während die Entdeckungen aus dem Geschäftssegment BioScience in zumeist exklusiven Kooperationsgeschäften mit Industriepartnern ihre kommerzielle Anwendung finden. Derzeit trägt BioIndustrial mit 51 % zum Gesamtumsatz bei. „Für uns sind hier Spezialitätenenzyme, naturbasierte Inhaltsstoffe für Lebensmittel und Kosmetika wichtige Wachstumssegmente“, prognostiziert der 55-jährige CEO.

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Oben: Biologielaborantin Kinga Przibilla erläutert Fondsmanager Björn Glück die Analyse der Zellkulturen.

BRAINs Zukunft liegt zum Teil im Keller des denkmalgeschützten Bauhaus-Gebäudes in Zwingenberg. Im Bioarchiv schlummert hier eine riesige Mannschaft von hoch qualifizierten „Mitarbeitern“, Zellen, Stoffen und Enzymen, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen, sondern nur unter dem Mikroskop sichtbar sind – konserviert zumeist in großen Gefrierschränken bei minus 80 oder in Flüssigstickstoff bei minus 196 Grad Celsius.

„Einem Team hier in Zwingenberg ist das gelungen, was die ganze Welt zuvor vergeblich versucht hat.“

Die Inventarliste des Bioarchivs spiegelt das Innovationspotenzial des Unternehmens wider: 53.000 charakterisierte Mikroorganismen zur Stammentwicklung, 300 Millionen wiederverwertbare, durchmusterbare Metagenom®-Klone, 49.500 natürliche und von der Natur abgeleitete Substanzen, 13.000 Pflanzenfraktionen für die Naturstoff-Isolierung, 464 durchmusterbare Enzym-Bibliotheken, 450 Habitat-Sammlungen und Umweltproben und 43 Metagenom®-Bibliotheken.

„Wenn wir etwas brauchen, suchen wir zielstrebig in unserem Archiv den Mikroorganismus oder den Stoff, der genau das kann“, sagt Eck. Hört sich einfach an, ist aber oft ein aufwendiger Prozess, da sich die Mikroorganismen und Naturstoffe nur grob nach ihren potenziellen Fähigkeiten klassifizieren und archivieren lassen. Der Stoff oder Organismus, der es in Zwingenberg in den ersten Stock in die Abteilung „Zellkultur“ schafft, hat schon eine erste Hürde bei der Auswahl genommen. In Petrischalen, immer wieder mit Nährstoffen versorgt und im Inkubator bei 37 Grad Celsius gelagert, müssen für diverse Aufgaben ausgewählte „Kandidaten“ ihr Können unter Beweis stellen, wie die Biologielaborantin Kinga Przibilla dem Fondsmanager von Lupus alpha, Björn Glück, erklärt.

Seit dem 9. Februar 2016 ist der Spezialist für industrielle Biotechnologie im Prime Standard-Segment in Frankfurt notiert. Zwei Jahre später kostet die Aktie 24,40 Euro – eine Wertsteigerung von mehr als 170 % gegenüber dem Ausgabekurs von 9 Euro. Lupus alpha nutzte den Börsengang als Einstieg.

In Petrischalen, immer wieder mit Nährstoffen versorgt und bei 37 Grad Celsius gelagert, müssen die Zellen ihr Können unter Beweis stellen.

Sorgfältige Kontrolle – zwei BRAIN-Mitarbeiter überwachen verschiedene Testreihen, die in den Fermentiertanks für Industriepilotversuche durchgespielt werden.

Die Kursfantasie der BRAIN-Aktie wird genährt von den Wachstumshoffnungen des Bioökonomiepioniers: Naturstoffe, die gesundheitliche Zeitbomben unserer Gesellschaft entschärfen sollen. Konkret geht es beispielsweise um das 2016 gestartete DOLCE Programm, das Konsumgüterherstellern einen Wissens- und Lizenzierungsvorsprung bereits während der Entwicklung von natürlichen Zuckerersatzstoffen oder Süßkraftverstärkern sichert. Dafür zahlen sie dem DOLCE Kernteam, dem neben der BRAIN AG auch die Tochter AnalytiCon Discovery und der französische Familienkonzern Roquette angehören, Gebühren, die je nach Phase Erfolgszahlungen, Exklusivitäts- oder Lizenzgebühren sein können. Mittlerweile sind dem Programm mehrere Industriepartner beigetreten, die unter anderem die Produktkategorien Frühstückszerealien, Snacks und nichtalkoholische Getränke abdecken. Ähnliche Geschäftsmodelle schweben BRAIN mit dem Ziel der Reduktion von Salzen und Fetten in Lebensmitteln vor.

Björn Glück, der 2005 zu Lupus alpha kam und hier für den mehrfach ausgezeichneten Fonds Lupus alpha Smaller German Champions verantwortlich ist, hat BRAIN kennengelernt, als sich das Wachstumsunternehmen auf den Gang an die Börse vorbereitete. „Nachdem ich mir das Unternehmen näher angeschaut hatte, war mir klar, dass es an dem großen Wandel in der Nahrungsmittelbranche in Richtung natürliche Aromastoffe partizipieren kann.“ Der Biotech-Spezialist forscht an Produkten mit Blockbuster-Potenzial, wie Glück es auf den Punkt bringt. „Die Chance ist groß, dass BRAINs Partnerunternehmen unter den Konsumgüterherstellern diese natürlichen Aromastoffe in die Rezeptur ihrer Produkte einbauen. Das würde zu einem signifikanten Umsatzwachstum bei BRAIN führen.“

Links: Kommunikationschef Thomas Deichmann erläutert Björn Glück die Funktionsweise eines Fermentiertanks.
Oben rechts: Reagenzien und Arbeitslösungen in der Abteilung „Zellkultur“.
Unten rechts: Der „BRAIN BioXtractor“. Ein 12 Meter langer Überseecontainer, mit dem aus edelmetallhaltigen Abfallströmen Gold gewonnen werden kann. Ab Mitte 2018 auf Roadshow u. a. bei Müllverbrennungsanlagen.

Glück erinnert sich an sein erstes Treffen mit CEO Eck im Vorfeld des Börsengangs: „Der Gründergeist und die Passion für das eigene Tun haben mich angesteckt. Völlig anders war diese Erfahrung im Vergleich zu Börsenkandidaten mit Vorstandschefs, die extra für das IPO geholt wurden. Eck und sein Management-Team haben damals auf mich einen extrem glaubwürdigen Eindruck gemacht.“ Heute macht das Investment von Lupus alpha rund 1 % der BRAIN-Marktkapitalisierung von aktuell knapp 430 Millionen Euro aus.

„Nach Tabak und Alkohol gehen auch von übermäßigem Zuckerkonsum große Gesundheitsgefahren aus“, sagt BRAINs Finanzvorstand Frank Goebel. „Die Konsumgüterunternehmen laufen Gefahr, durch Konsumenten und Handelsketten unter Druck zu geraten, weshalb sie aktiv nach Innovationen, wie wir sie bieten, Ausschau halten“, ergänzt der ehemalige Banker. Laut Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO hat sich die Zahl der fettleibigen Kinder und Jugendlichen innerhalb von gut vierzig Jahren mehr als verzehnfacht. Die Politik sagt dem übermäßigen Zuckerkonsum den Kampf an. Die staatlichen Gesundheitssysteme ächzen unter der Milliardenlast, die die Folgekosten von Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes verursachen. So wird Großbritannien ab April 2018 eine Zuckersteuer auf Erfrischungsgetränke erheben, die eine Dose Fanta oder Sprite um sechs Pence und eine Dose Cola um 8 Pence verteuert. Kosten durch Fehlernährung belasten das deutsche Gesundheitssystem jährlich mit 16,8 Milliarden Euro, wie aus einem Papier des Deutschen Bundestags vom Herbst 2016 hervorgeht.

Vorstandsvorsitzender Dr. Jürgen Eck (Mitte) und Finanzvorstand Frank Goebel (rechts) im Gespräch mit Björn Glück.

Zurück ins Labor, wo die Naturstoffe des DOLCE Programms getestet werden: Auf dem Bildschirm, den Przibilla und Glück gespannt beobachten und der an ein Mikroskop mit Zellkultur angeschlossen ist, flackern grün-gelbe fluoreszierende Punkte auf. „Sie zeigen an, dass der Geschmacksrezeptor der ins Labor übertragenen menschlichen Geschmackszellen aktiviert wurde“, erläutert die Biologielaborantin dem Fondsmanager, der das Unternehmen zum zweiten Mal vor Ort besucht.

Gesamtleistung: 26,9 Mio. Euro
Nettoergebnis: minus 9,7 Mio. Euro
EBIT-Marge: minus 26,56 %
Anzahl Mitarbeiter: 232, inkl. Stipendiaten und Auszubildende, davon 138 im Bereich F&E
Marktkapitalisierung (per 31. 12. 2017): 407,25 Mio. Euro
Performance: 171 % in den ersten zwei Jahren nach IPO am 09. 02. 2016, 28,6 % im Kalenderjahr 2017
Aktionärsstruktur:
MP Beteiligungs-GmbH (Family Office Putsch/Recaro): 34,7 %
Gründer und Management: 7,7 %
DAH Beteiligungs GmbH (Daniel Hopp): 9,1 %
Streubesitz: 48,5 %

Schmeckt der Naturstoff genauso oder sehr ähnlich wie Zucker? Oder hat er einen bitteren, lakritzähnlichen Nachgeschmack, wie er dem seit 2011 in Deutschland zugelassenen Süßstoff Stevia nachgesagt wird? BRAIN kann messen, wie die kultivierten Geschmackszellen natürliche Süßungsmittel empfinden. Dank beharrlicher Versuche ist es BRAIN gelungen, mit menschlichen Geschmackszellen das zu machen, was bislang nicht geklappt hat: sie zu isolieren und zu immortalisieren – also die natürliche Begrenzung der Zellteilung aufzuheben, um sie im Labor beliebig häufig zu vermehren. Der Durchbruch kam im April 2012. „Einem Team hier in Zwingenberg ist das gelungen, was die ganze Welt zuvor vergeblich versucht hat“, sagt der leidenschaftliche Forscher Eck begeistert und stolz. Mit dem, was er sagt, aber auch wie er es sagt, schafft der Vorstandschef Momente, in denen er selbst Laien mitreißt und sie an dem Forscherhochgefühl teilhaben lässt, nach unzähligen Tagen, Wochen, Monaten des Ausprobierens und Zellenkultivierens einen entscheidenden Schritt weitergekommen zu sein.

Mit dem DOLCE Programm ist BRAIN nah an dem, was Eck und Goebel als „Heiligen Gral“ bezeichnen: Natürliche Zuckerersatzstoffe zu finden, die genauso gut wie Zucker und damit deutlich besser als Stevia schmecken. Verschiedene Testreihen, bei denen in Fermentiertanks die Prozesse mit Volumina gebräuchlich für Industriepilotversuche durchgespielt werden, sind bereits abgeschlossen. Goebel schätzt, dass 2021 die ersten Produkte mit BRAINs Zuckerersatzstoffen in Supermarkt-regalen stehen werden. Dann sollten Registrierungsprozesse in Deutschland und den USA abgeschlossen sein. Generell gilt, dass von der Idee bis zur Markteinführung sechs bis zehn Jahre vergehen können.

Eine weitere Idee, die nach etlichen Jahren der Entwicklung kurz vor der Marktanwendung steht, ist auf dem Parkplatz der Unternehmenszentrale nicht zu übersehen. Ein 12 Meter langer, von einem Graffitikünstler auffällig gestalteter Überseecontainer mit der Aufschrift „BRAIN BioXtractor“. „Damit bieten wir eine fast schon utopisch schöne Lösung an, um Gold zu gewinnen“, sagt Dr. Jürgen Eck. „Man braucht dazu nur vier Dinge: spezielle Mikroorganismen und edelmetallhaltige Abfallströme sowie einen Strom- und Wasseranschluss.“ BRAIN hat Technik- und Laborausrüstung in diesen mobilen Container gepackt, um bei Müllverbrennungsanlagen- oder Bergwerksbetreibern auf Kundenakquise zu gehen und vor Ort demonstrieren zu können, dass die BRAIN-Bakterien ihr „Gold-Handwerk“ verstehen – und das ganz ohne Einsatz toxischer Chemikalien.

Doch bei aller Begeisterung für die „Mitarbeiter“ aus der Petrischale legt Vorstandschef Eck am meisten Wert auf den Austausch mit und unter seinen „echten“ Mitarbeitern. Jeden Dienstag und Freitag treffen sich die Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Bereichen der Forschung und Entwicklung für jeweils zwei Stunden, um über das zu reden, was geklappt hat und was nicht – und vor allem, warum nicht. In dem Meetingraum hängt – wie an vielen Orten im Unternehmen – eine schwarze Tafel, kein Smartboard. „Kreide eignet sich besser für eine Kultur, in der eine Idee in den Raum gestellt und gemeinsam weiterentwickelt wird“, findet Eck. Ihr eine Chance zu geben, sie zu diskutieren, sie zu verfeinern. Oder sie vielleicht auch wieder wegzuwischen. Diese Kreativität und Offenheit sind elementare Voraussetzungen für erfolgreiche Innovationen. Davon sind Eck und sein Team überzeugt.

Wir sind wie Trüffelschweine

Small & Mid Caps bieten ein großes Universum an spannenden Unternehmen. Investmentideen finden wir darin nicht nur über das direkte Screening, sondern häufig auch über bereits allokierte Investments.

Ein Beispiel: Ein Portfolio-Unternehmen entwickelt ein neues Produkt, weil es auf verbesserte Zulieferungen zugreifen kann. Als Investor freut uns das. Aber: Es ist gleichzeitig auch der Impuls, zu hinterfragen, ob der neue Zulieferer nicht auch für uns interessant sein könnte. Vielleicht ist er sogar viel interessanter als das Unternehmen, über das wir auf ihn gestoßen sind. Und es kann dann sogar sein, dass wir im Rahmen einer Peer Group-Analyse zu der Ansicht kommen, dass das neu identifizierte Unternehmen noch besser für ein Investment geeignet ist. So haben wir uns quasi von oben nach unten bewegt, um dann unten noch einmal seitwärts zu gucken.

Um im Bild zu bleiben: Ähnlich wie Trüffelschweine wühlen und riechen wir so lange an den Unternehmen, bis wir etwas gefunden haben. Diese Arbeitsweise erlaubt es uns auch, sehr früh ein Investment aufzuspüren. So wie die BRAIN AG. Die Wertschöpfung entsteht oft nicht durch das sofortige Investieren, sondern durch das Identifizieren und Entwickeln einer Investmentidee.

DR. GÖTZ ALBERT,
PARTNER UND HEAD OF SMALL & MID CAPS

Inhalt Ausgabe 004