Das Beben des Brian

Gemessen an einem Bill Gates oder einem Elon Musk liest sich die Vita des Brian Chesky eher durchschnittlich. Trotzdem ist es dem 35-Jährigen gelungen, mit seiner Übernachtungsplattform Airbnb die globale Hotelbranche zu erschüttern. Wie hat der scheinbar stinknormale Designstudent das bloß gemacht?

Von Heinz-Roger Dohms

Das Orpheum-Theater von Los Angeles hat viele denkwürdige Momente erlebt. In den „Roaring Twenties“ traten die legendären Marx Brothers hier ebenso auf wie die „Queen of Jazz“ Ella Fitzgerald. Später begeisterten dann Musiker wie Little Richard, Aretha Franklin oder Stevie Wonder das Publikum. Vor ein paar Jahren entdeckte schließlich das Fernsehen den Charme des Beaux-Arts-Gebäudes – und drehte hier die künstlerisch eher fragwürdigen Shows „American Idol“ und „America’s Got Talent“.

In der 1926 erbauten Spielstätte hat es im Laufe der Jahrzehnte also unzählige Momente des Jubels, der Rührung und der Bewunderung gegeben. Und trotzdem: Einen so ehrerbietig beklatschten Auftritt wie den am 17. November 2016 hat das Theater wohl selten erlebt. Und das, obwohl an diesem Herbsttag nur ein unscheinbarer junger Kerl in schwarzen Sneakers, schwarzer Jeans und schwarzem Pulli auf der Bühne steht und schnell Sätze in ein fleischfarbenes Headset-Mikro spricht.

Der junge Kerl heißt Brian Chesky und ist Gründer von Airbnb, also jener Internetplattform, die in den vergangenen Jahren den globalen Übernachtungsmarkt revolutioniert hat – und damit die Art und Weise, wie wir Urlaub machen. Doch das ist noch nicht alles: Gemeinsam mit dem Taxidienst Uber gilt Airbnb als globales Symbol einer gleichsam neuen Form des Wirtschaftens, der „Sharing Economy“. Wir besitzen nicht mehr, sondern teilen. Und zwar ausgerechnet die Dinge, die uns eigentlich besonders heilig sind. Das Auto zum Beispiel. Oder eben die Wohnung.

Es begann alles mit einer
naiv klingenden Idee

Warum, so fragte sich Chesky, soll ich auf meiner Couch eigentlich nur Verwandte, Freunde oder Bekannte schlafen lassen? Warum nicht auch andere Menschen, die für ein paar Tage zu Besuch in meiner Stadt sind? Ende der 2000er-Jahre schien das ein zwar sympathischer, aber auch naiver Gedanke zu sein. Denn wie sollte das Modell funktionieren? Wer will die eigene Wohnung schon mit jemandem teilen, den er überhaupt nicht kennt?

Heute scheinen Millionen von Menschen diese Fragen überhaupt nicht mehr zu stellen. Stattdessen ist Cheskys Idee zu einem der spannendsten Geschäftsmodelle unserer Zeit mutiert. Allein zu Silvester, so teilte der Jungunternehmer am 31. Dezember 2016 selbstbewusst via Twitter mit, übernachteten mehr als zwei Millionen Menschen via Airbnb. Entsprechend euphorisch sind die Investoren: Die jüngste Finanzierungsrunde bewertet Airbnb mit rund 31 Milliarden Dollar. Cheskys Anteile, obwohl der Menge nach inzwischen stark verwässert, sind damit auf dem Papier schon 3,3 Milliarden Dollar wert. Der Kapitalmarkt handelt Airbnb als einen der nächsten heißen Börsengänge unter den „Tech Unicorns“. Wie hat der junge Kerl, den sie im Orpheum-Theater anhimmeln, als sei er ein Sektenführer, das bloß gemacht?

Die Biografie des Brian Chesky ist nicht die eines Überfliegers. Er wächst auf in Niskayuna, einer Kleinstadt im Bundesstaat New York. Beide Eltern sind als Sozialarbeiter beschäftigt. Die große Leidenschaft ihres Sohns ist schon in jungen Jahren das Design. Der „New York Times“ erzählte er einmal: „Andere Kinder haben sich vom Nikolaus Dinge gewünscht, mit denen sie spielen konnten. Wenn ich mir hingegen Spielsachen gewünscht habe, dann nur solche, die besonders schlecht designt waren, damit ich sie neu entwerfen konnte.“ Als er etwas älter ist, fokussiert sich Chesky auf Turnschuhe. Er fertigt Hunderte Skizzen von Nike- oder Reebok-Tretern an, denen er mit Stift und Block ein frisches Design verpasst. Als Jugendlicher werden die Objekte, die er sich vorknöpft, dann immer größer: Gärten, Straßen, Viertel, ganze Städte.

Keine Frage: Der Junge ist ambitioniert.
Aber ein Unternehmer?

Noch dazu einer, der ein paar Jahre später einen Wirtschaftszweig „disruptieren“ wird, wie man neudeutsch sagt? Steve Jobs war schon als Kind ein Tech-Nerd. Bill Gates wurde als Jugendlicher vom Matheunterricht befreit, um stattdessen den Schulcomputer zu programmieren. Elon Musk, der PayPal-Gründer und spätere Tesla-Chef, entwickelte mit zwölf Jahren ein Videospiel, das er erfolgreich an eine Computerzeitschrift verkaufte. Alle drei brachen später ihr Studium nach kurzer Zeit ab. Sie fühlten sich zu Wichtigerem berufen.

Das Logo von Airbnb anlässlich der Airbnb Open, die im November 2016 in Los Angeles stattfand.

Brian Chesky dagegen beginnt nach der Schule erst einmal ein Studium an der Rhode Island School of Design. Und zieht dieses auch brav in fünf Jahren durch. 2004 schließt er ab mit einem Bachelor in „Industrial Design“. Danach geht er nach Los Angeles, um dort bei einer Firma namens 3DID zwei Jahre lang als Produktdesigner zu arbeiten. Die Stelle, so wird er später berichten, habe er nicht zuletzt deshalb angetreten, weil die Firma ihm als Teil des Gehaltspakets eine Krankenversicherung angeboten hatte. Handelt so ein Revolutionär?

Brian Chesky in seinem Element. Keiner in der Start-up-Szene redet so schnell und präsentiert so mitreißend wie der Airbnb-Chef.

Vor dem Hintergrund seiner Vita verblüfft tatsächlich, mit welchem fast messianischen Selbstverständnis der mittlerweile 35-Jährige nun im Orpheum-Theater vor seine gut 2.000 Fans tritt. Eigentlich geht es an diesem Morgen nur um die Vorstellung eines neuen Tools für die Airbnb-Plattform, eine Reiseplaner-Funktion namens Trips. Doch genau wie früher bei Apple und Steve Jobs gerät die Produktpräsentation zu einer Art Weihefest. Zunächst betreten mit Chesky seine beiden Mitgründer Joe Gebbia, 35, und Nathan Blecharczyk, 32, die Bühne. Danach gehören die Scheinwerfer allein dem CEO Chesky. Und der genießt seinen Auftritt, die Stimme ist fest, die Rhetorik sicher. Insgesamt dauert die Show eine satte Dreiviertelstunde.

Allein zu Silvester 2016 übernachteten mehr als zwei Millionen Menschen via Airbnb.

Rückblende: Es ist das Jahr 2007, als Chesky zu Joe Gebbia nach San Francisco zieht. Die beiden kennen sich aus dem Studium. Und schon zu jener Zeit hatte Gebbia seinem Kumpel prophezeit, dass sie irgendwann einmal ein gemeinsames Unternehmen gründen würden. Einerseits passt San Francisco daher perfekt – hier ist die Keimzelle der US-Technologie- und Internetindustrie. Andererseits: Chesky und Gebbia sind beide keine Techies.

Was für ein Unternehmen
sollen sie gründen?

Im Herbst jenes Jahres veranstaltet eine amerikanische Designerorganisation in San Francisco eine Konferenz. Die Hotelzimmer in der Stadt sind voll, viele Teilnehmer wissen nicht, wo sie übernachten sollen. Das bringt Chesky und Gebbia auf eine Idee: Sie legen im Wohnzimmer ihrer Wohnung ein paar Luftmatratzen aus – und vermarkten das Ganze als „Airbed and Breakfast“. Abgekürzt entsteht daraus später der Name „Airbnb“. Ein geniales Geschäftsmodell ist geboren. Auch wenn das damals noch niemand ahnt.

Tatsächlich sind 2007 erst ein paar Grundzutaten für eine Ökonomie des Teilens in der Welt. Aber Plattformen wie eBay haben bereits Märkte entstehen lassen, die zwei wichtige Charakteristika der „Sharing Economy“ aufweisen: Privatleute sind hier nicht mehr nur Nutzer, sondern auch Anbieter. Und die Verbreitung ist quasi grenzenlos. Es ist schließlich etwas ganz anderes, ob man sein gebrauchtes Smartphone im örtlichen Kleinanzeigenblättchen offeriert oder ob man via eBay Millionen potenzieller Interessenten erreicht. Allerdings gibt es einen Unterschied.

Ein Smartphone mag ich einem Fremden
abkaufen – aber lasse ich ihn auch in meiner
Wohnung schlafen?

Die Geschichte von Airbnb hat viele Erfolgsfaktoren. Doch der mit Abstand wichtigste: Chesky und seinen Kumpanen gelingt es, genau dieses Vertrauensproblem zu lösen. Wer Mitglied bei Airbnb werden will, muss seine Daten zum Beispiel erst einmal verifizieren lassen. Darüber hinaus haben die Macher ein Ratingsystem etabliert, mit dem sich unzuverlässige User offenbar ziemlich zuverlässig aussieben lassen. Und nachdem 2011 ein Gast tatsächlich einmal eine komplette Wohnung verwüstet hatte, installierte Airbnb eine Versicherung, die seitdem für mögliche Schäden aufkommt.

Die Startseite von Airbnb im Internet. Das Onlineportal wird von Reisenden als Wohlfühl-Alternative zu teuren und sterilen Hotels gefeiert.

Auch sonst treffen die drei Gründer gerade in der Anfangsphase viele Entscheidungen, die sich später als sehr smart erweisen werden. So investieren sie einen beträchtlichen Teil ihres Funding-Kapitals in professionelle Fotografen, die die angebotenen Wohnungen auf Firmenkosten ins rechte Licht setzen sollen. Die perfekten Bilder sorgen dafür, dass sich Airbnb frühzeitig von ähnlichen Plattformen abhebt und sich den Ruf eines besonders hochwertigen Anbieters erwirbt. So entdecken immer mehr User die Seite für sich. Und schaffen so die nötige Liquidität an Wohnungen auf der einen und potenziellen Gästen auf der anderen Seite.

Einen weiteren, wichtigen Erfolgsfaktor sehen Internetexperten darin, dass Airbnb es geschafft hat, den Usern einerseits genau die Dinge abzunehmen, mit denen sie sich selber nicht befassen wollen – ihnen aber andererseits die Dinge zu übertragen, die User gern selber machen. In einer treffenden Analyse des Technologiemagazins „TechCrunch“ über die Plattform hieß es einmal: „Airbnb managt viele Dinge zentral – wie etwa Fotos, Verifizierung, Bezahlung, Ratings, Kundenservice, Versicherung und Geschäftsbedingungen. Dadurch fühlt es sich für die User an, als würden sie ein normales Hotelzimmer buchen.“ Zugleich überlasse Airbnb allerdings die Preisfindung, die Objektbeschreibung oder die Schlüsselübergabe den Usern. Dadurch festige sich der Eindruck, man miete keine anonyme Herberge, sondern ein richtiges Zuhause.

War es wirklich Zufall, dass ausgerechnet der scheinbar stinknormale Produktdesigner Chesky dieses revolutionäre Tool ersonnen hat? Nein, das war es nicht. Die Internetökonomie wird längst nicht mehr nur von den eigentlichen Techies bestimmt, sondern mindestens ebenso sehr von Menschen, für die sich seit einiger Zeit der Terminus „Design Thinker“ herausschält. Damit sind Entwickler gemeint, die Applikationen so bauen, dass sie sich in das angenommene Nutzerverhalten einfügen oder dieses prägen. Airbnb ist in dieser Hinsicht nahezu perfekt. Man darf Brian Chesky also durchaus für einen Genius halten. Auch wenn es sich bei ihm um ein anderes Genie als etwa das eines Bill Gates handelt. Immerhin steht Chesky inzwischen auf der „Forbes“-Liste der reichsten Menschen der Welt. Und zuletzt hat er es sogar ins „Times“-Ranking der 100 global einflussreichsten Persönlichkeiten geschafft.

Auch Genies bekommen Gegenwind

Wer Airbnb nutzt, der hat schon seit Jahren nicht mehr den Eindruck, dass es wirklich nur die von Brian Chesky gern beschworene „Community“ kleiner Wohnungsbesitzer und reisefreudiger Backpacker ist, die über das Portal zueinanderfindet. Stattdessen haben längst auch Profis den Vermittlungsdienst für sich entdeckt. So kam der New Yorker Generalstaatsanwalt Eric Schneiderman bei einer Untersuchung zu dem Schluss, dass im Big Apple nur 6 % der Airbnb-Vermieter rund 35 % des Umsatzes auf sich vereinten. Einer der vermeintlichen „Gastgeber“ betrieb nicht weniger als 272 Apartments. Schneiderman reagierte so, wie amerikanische Generalstaatsanwälte das gern tun: Er erklärte gleich drei Viertel aller New Yorker Airbnb-Unterkünfte für illegal.

New York ist kein Einzelfall. Kam der Widerstand gegen Chesky anfangs vornehmlich vonseiten der Hotellobby, so sieht sich seine Firma inzwischen dem Widerstand von weiteren Metropolen ausgesetzt. Von Berlin bis Barcelona, von Paris bis London: Die Stadtverwaltungen fürchten, dass ein immer größerer Teil des knappen Wohnraums nicht mehr regulär vermietet wird, sondern dauerhaft zur Airbnb-Herberge mutiert. Eine widerrechtliche Zweckentfremdung, wie die Gegner des Portals argumentieren. In London zum Beispiel darf eine Wohnung darum in diesem Jahr nur noch an maximal 90 Tagen an Touristen vermietet werden.

Die Internetökonomie wird längst nicht mehr nur von den eigentlichen Techies bestimmt.

Der Streit mit den Kommunen könnte für das Unternehmen zur Schicksalsfrage werden. Statt das Geschäftsmodell zu erweitern und mit diesem endlich schwarze Zahlen zu schreiben, war Airbnb zuletzt vor allem damit beschäftigt, den Erfolg der vergangenen Jahre rechtlich abzusichern. Als Cheflobbyisten hat Chesky einen früheren Bill-Clinton-Berater namens Chris Lehane engagiert. Dessen Losung lautet: „Please tax us.“ Sehr frei interpretiert: „Wir zahlen so viel, wie Ihr wollt – solange Ihr uns nur das Geschäft nicht verbietet.“

Brian Chesky hat aus dem Nichts den größten Übernachtungsvermittler der Welt aufgebaut. Die viel größere Herausforderung für den jungen Mann mit dem fleischfarbenen Headset-Mikro könnte jedoch sein, das Unternehmen erfolgreich an der Spitze zu halten und mit seinem Modell der „Sharing Economy“ schwarze Zahlen zu schreiben.

Ein ganz normales Genie

Er ist zwar kein klassisches Silicon-Valley-Genie und auch kein Tech-Nerd, wie Bill Gates oder Steve Jobs es waren. Dennoch hat Brian Chesky schon jetzt Unternehmensgeschichte geschrieben, indem er seine scheinbar einfache Idee hartnäckig weiterverfolgt und mit den richtigen Instrumenten vermarktet hat. Trotz des Gegenwindes aus der Hotellobby und aus einzelnen Städten wie New York oder Berlin wird Airbnb seine Wachstumsgeschichte weiter fortschreiben. Gerade für junge Menschen bietet Airbnb eine ideale Plattform, abseits des Hotel-Mainstreams in den Metropolen dieser Welt Urlaub zu machen.

Gleichzeitig hat Chesky den Trend zur „Sharing Economy“ ganz maßgeblich mitgeprägt. Inzwischen werden nicht nur die eigenen vier Wände vermietet oder Privatautos als Taxi genutzt, sondern auch in den sozialen Netzwerken alle Arten von Erlebnissen und Events via Fotos und Videos geteilt. So auch von der Airbnb Open im vergangenen Jahr in Los Angeles, in deren Rahmen auch Cheskys Auftritt im Orpheum-Theater stattfand.

Zu der Veranstaltung kamen 7.500 handverlesene Teilnehmer. Unter ihnen Stars wie Gwyneth Paltrow, Ashton Kutcher oder Lady Gaga. Man könnte meinen, Chesky würde sich mit solchen Leuten schmücken. Doch wenn man die gemeinsamen Fotos im Netz ansieht, drängt sich eher der Eindruck auf, es wäre umgekehrt. Der wahre Star scheint Chesky zu sein. Dennoch ist er auf dem Boden geblieben. Auch das macht einen echten „Leitwolf“ aus.

MICHAEL FRICK, PARTNER UND CFO VON LUPUS ALPHA

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